als Statthalter eines schönen Lebens sind Hassobjekte der regressiven Studierendenschaften
“Blutsauger haben ein kurzes Leben ...
... und Studiengebühren zerstören Lebensentwürfe.”
(Konferenz Sächsischer Studierendenschaften, Plakat 2005)
“Seine blutsaugerische Tyrannei wird so groß, daß es zu Ausschreitungen gegen ihn kommt. ... In Zeiten bitterster Not bricht endlich die Wut gegen ihn aus, und die ausgeplünderten und zugrunde gerichteten Massen greifen zur Selbsthilfe...”
(Adolf Hitler, Mein Kampf)
Auf dem Plakat “Blutsauger haben ein kurzes Leben...”, das zu einer Studierendenschaften-Demonstration und zu einer Vollversammlung gegen Studiengebühren aufruft, ist eine Mücke in Nahaufnahme zu sehen, wie sie gerade Blut saugt. Sie dient den Studierendenschaften, die das Plakat layoutet, in Auftrag gegeben und verbreitet haben, und auch denen, die ihm folgen, als Allegorie. Sie steht für diejenigen, die am Lebenselixier der Gemeinschaft oder des Einzelnen schmarotzen, statt aus ihrem eigenen zu schöpfen.
Im Weltbild des Antisemiten gelten die Juden als Blutsauger und damit als lebensbedrohliche Gefahr, die vernichtet werden muss. Die Juden als Blutsauger und Parasiten zu beschimpfen, gehörte im Nationalsozialismus in jede Hetzschrift und Brandrede. Die Allegorie des Blutsaugers eignet dem Nationalsozialismus nicht nur, um den Juden als raffgierigen Unmenschen darzustellen, sondern auch, weil in dieser Allegorie das Blut eine gewichtige Rolle spielt. Schon im Mittelalter kreisten die antijüdischen Legenden vom Ritualmord und von der Hostienschändung – als Vorboten des blutversessenen Rassismus – um das christliche Blut, auf das es die Juden abgesehen hätten. Es wird zum verbindenden Lebensquell hochstilisiert und soll die Gemeinschaft als natürliche konstituieren. Im Nationalsozialismus galt dann das arische Blut als gemeinsames Elixier der Volksgemeinschaft.
Im Hass auf den sogenannten Blutsauger macht sich das Bedürfnis Luft, jemanden als grundsätzlich Schuldigen auszumachen und an den Pranger zu stellen. Dem heutigen gemeinen Menschenverstand gelten Spekulanten, Börsianer, Banker, Bürokraten und viele Politiker als Blutsauger. Sie werden zu Sündenböcken von Verhältnissen gemacht, die Karl Marx als welche beschrieben hat, die nicht in der Verantwortung Einzelner liegen, sondern sich gegenüber den Menschen zu einem "automatischen Subjekt" aufspreizen. Er zeigt auf, dass dieses alle Menschen zu Mitteln degradiert – die ständige Akkumulation von Kapital hat nicht böse Blutsauger zum Ausgangspunkt, sondern ist "innerer Trieb" der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Auch die sogenannten Kapitalisten sind nur “Personifikationen” dieser unvernünftigen Produktionsverhältnisse, welche zwar eine ungeheure technische Entwicklung mit sich bringen, aber gleichzeitig die Menschen zu Arbeitstieren erniedrigen. Auf der einen Seite haben sie solche immensen Produktivkräfte entwickelt, dass die Abschaffung des Hungers ein Leichtes wäre, auf der anderen Seite werden in ihnen gemäß ihrer irrationalen Logik und trotz Hungers Lebensmittelberge vernichtet.
Jeder, der sich selbst reproduzieren will, hat zwangsläufig an der Reproduktion dieser kapitalistischen Verhältnisse teil. Auch Studierende. Schließlich versuchen sich alle Studierenden die bestmöglichen Referenzen zu verschaffen, um später einmal bei der Suche nach einem Arbeitsplatz die anderen ehemaligen Studierenden zu übervorteilen. Dass diese Konkurrenz Verlierer zur Folge hat, ist logisch. Gezügelt wird diese Konkurrenz durch den Staat, der die von ihm gesetzten Verhaltensregeln überwacht. Zugleich wird sie von ihm angespornt, ist doch die Konkurrenz Garant für seine wirtschaftliche Potenz. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse stehen dem Staat nicht entgegen, sondern benötigen ihn. Einerseits wird das Individuum in diesen Verhältnissen notwendig zum Konkurrenzsubjekt, welches als Eigentümer von Produktionsmitteln oder von Arbeitskraft die Akkumulation des Kapitals durch seine – durch die Konkurrenz provozierte – maximale Leistung auf hohem Niveau halten soll. Andererseits wird das Individuum in den Verhältnissen als Staatsbürger benötigt, der die Rahmenbedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und damit die Grundlagen für sein Dasein als Konkurrenzsubjekt aufrecht erhält.
Nicht die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die den Menschen ein glückliches Leben vorenthalten, werden in dem Hass auf den Blutsauger angeprangert, sondern die vermeintlichen Gewinner in diesen Verhältnissen. Statt den Wunsch zu äußern, auch wie sie in Reichtum zu schwelgen, wird den Reichen ihr Reichtum verübelt. Dieser Hass hat das Zwangskollektiv zum Telos.
Komplementär zur Abschaffung des sogenannten Blutsaugers soll immer auch der sogenannte Faulpelz abgeschafft werden. Beide gelten sie als Sozialschmarotzer, die sich ein schönes Leben machen, statt im Schweiße ihres Angesichts zu arbeiten. Ihnen wird vorgeworfen, sich mittels unlauterem Vorgehen auf Kosten anderer zu bereichern. Sie würden nicht dem moralischen Prinzip Folge leisten, welches da wäre: Jeder bekommt von der Gemeinschaft nur so viel, wie er in sie investiert hat, beziehungsweise: Jeder nach seinen Leistungen. Dieses moralische Prinzip wird gegen den Kapitalismus in Stellung gebracht – da in diesem der Lohn nicht den jeweiligen Leistungen angemessen ist. Es ist aber nicht nur antikapitalistisch. Es ist auch gefährlich. Statt sowohl das darwinistische Prinzip der allgemeinen Konkurrenz wie auch den Staat als Zwangsverhältnis überwinden zu wollen, provozieren jene Antikapitalisten, die das Prinzip jeder nach seinen Leistungen stark machen, eine verstaatlichte Gesellschaft, in der das Leistungsprinzip nicht primär über die freie Konkurrenz zur Geltung gebracht wird, sondern durch noch mehr Staat: Keiner soll mehr schmarotzen dürfen; keiner soll mehr, ohne was getan zu haben, Reichtum abstauben können. Das schöne Leben, welchem der Schmarotzer in der gegenwärtigen Gesellschaft am nächsten kommt, soll ausgemerzt werden. Dieser Antikapitalismus, der zumeist von Linken wie von Rechten gepredigt wird, ist schlimmer als die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Im schlimmsten Fall hatte er sich zum eliminatorischen Antisemitismus entfaltet.
Karl Marx hat diesem moralischen Prinzip jeder nach seinen Leistungen, welches beispielsweise auch von dem “Anarchisten” Joseph Proudhon kolportiert wurde, ein anderes zukunftsweisendes Prinzip entgegengestellt: “Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten.” Nicht die erbrachten Leistungen sind der Maßstab, wie ein Individuum leben kann, sondern die Erfüllung seiner Bedürfnisse und die Achtung seiner Fähigkeiten sind das Ziel der Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse inklusive dem Staat. Das Ziel derjenigen, die Gerechtigkeit im Sinne von jeder nach seinen Leistungen wollen, ist die verstaatlichte Gesellschaft und die Würdigung der Arbeit statt der Bedürfnisse.
Diejenigen, die es auf Faulpelze und Blutsauger abgesehen haben, bekämpfen das schöne Leben. Ein schönes Leben wäre es, den ganzen Tag nur zu machen, was man will, und von den Erträgen der Gesellschaft zu leben: “Laßt uns der Gaben/ arbeitslos uns freun”, zitiert Marx den griechischen Dichter Antipatros. Voraussetzung für ein solches “goldenes Zeitalter” wäre die Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ein Zustand, in dem nicht mehr die Gesellschaft die Menschheit, sondern die Menschheit die Gesellschaft unter ihre Zwecke subsumiert. Fixpunkt ist die “freie Assoziation” der Individuen und “überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum”.
Die Allegorie des Blutsaugers drängt sich auch den Studierendenschaften nicht versehentlich auf. Sicherlich wollen die Studierendenschaften alles andere, als sich in die Tradition des Nationalsozialismus zu stellen. Und doch reproduziert sie mit der Allegorie entscheidende Elemente seines Weltbildes. Die heutigen, postmodernen Studierendenschaften werden sicherlich keine Rassisten sein und höchstwahrscheinlich auch keine Verfechter einer deutschen Leitkultur. Sie werden wahrscheinlich Multikulti gut finden und für Toleranz eintreten. Aber sie suchen nach Schuldigen und denken weiterhin in den Kategorien von guter ehrlicher Arbeit und bösen blutsaugenden Schmarotzern. Was ihr Objekt der Sehnsucht ist, können oder wollen die Studierendenschaften noch nicht konkret ausweisen. Vorerst schwört man auf “Lebensentwürfe”, die von den drohenden Studiengebühren zerstört werden würden. Vielleicht denken die einen bei dem schwammigen Begriff an das Leben in einem Alternativkiez, andere vielleicht an das Leben in einem Multikulti-Weltstaat, wieder andere vielleicht einfach nur an ihre zukünftige Kleinfamilie oder ihr fleißig vorangetriebenes Studium. Auch lassen die Studierendenschaften offen, wer die bösen Blutsauger ihrer Meinung nach sein sollen. Die Alternativen dürfen an die “Bonzen” in ihrem Viertel denken, die Multi-Kulti-WeltstaatlerInnen an George Bush Jr. und die zukünftigen Familienmenschen an die Nachbarn, die ein größeres Auto haben und immer ausschlafen, beziehungsweise an jene Studierenden, die ihr Studium vom Staat finanziert bekommen, perspektivisch keine Gegenleistung erbringen werden und trotzdem die raren Sitzplätze in überfüllten Seminarräumen beanspruchen. Was die Sächsischen Studierendenschaften aber jetzt schon sicher wissen oder wünschen, ist, dass all diese sogenannten Blutsauger ein “kurzes Leben” haben. Mücken haben insbesondere dann ein kurzes Leben, wenn sie erschlagen werden. Was wünschen die Studierendenschaften jenen, die durch die angedachten Studiengebühren die Lebensentwürfe zerstören? Der chiffrenhafte und verstockte Verbalradikalismus auf dem Plakat ist zutiefst barbarisch. Hoffentlich braut sich darüber hinaus kein tatkräftiger Studierendenschaften-Mob zusammen.
Da brüten die Studierenden jahrelang über Büchern und entwerfen schließlich ein Plakat, das nichts anderes befördern kann als die Barbarisierung der Gesellschaft. Auch wenn wir ebenfalls gegen die Erhebung von Studiengebühren sind, wünschen wir doch das genaue Gegenteil von dem, was all jene wollen, die es auf sogenannte Blutsauger abgesehen haben:
So wenig wie möglich arbeiten und so viel wie möglich genießen.
[Mail to: gig@akg-leipzig.de]